Diese Rezension ist zuerst erschienen am 02. Juli 2013 in der Ausgabe Nr. 29 der Kritisch Lesen.
Für mich ist es eine geliebte Beschäftigung nach Kriterien zu suchen, die ein Buch queer machen können. Damit meine ich nicht, dass queer positionierte Personen vorkommen müssen oder dass ich eine Geschichte über eine queere Party lesen will. Sondern ich suche nach verqueerten Texten, nach Büchern, die mein Leseverständnis verwirren, mit meinen Erwartungen spielen und mit denen ich dazu gebracht werde, anders über Sachen nachzudenken, die ich sonst eigentlich immer so gedacht hatte.
„DAS machen? Projektwoche Sexualerziehung in der Klasse 4c“ von Lilly Axster und Christine Aebi ist so ein Buch. „DAS machen?“ ist ein Aufklärungsbuch, in dem Sexualität ganz anders geschrieben wird, als ich es bisher gelesen habe. Angesprochen sind Kinder und Jugendliche in der Kernzielgruppe 8 bis 11 Jahre, laut Autorinnen aber auch jüngere und ältere Menschen. Erzählt wird die Projektwoche Sexualerziehung der fiktiven Klasse 4c aus der Sicht eines der Kinder.
Und es ist die Sicht der Kinder, die fragmentarisch zusammengetragen wird und den Inhalt bestimmt und die „DAS machen?“ so nachhaltig von anderen Büchern über Sexualität unterscheidet. Hier steht nichts darüber, wie das genau mit dem Sex zu laufen hat und woher die Kinder kommen. Nichts davon, wie es bei Mädchen so ist und wie bei Jungen. Sondern geleitet wird die_der Leser_in durch die Fragen, das Wissen und die Kreativität der Schüler_innen, nachdem ihnen Raum gegeben wurde, über Körper und Sexualität nachzudenken.
In Worte fassen
Die Ideen und das Wissen der Kinder, die Sprache, mit der sie sich dem Thema annähern, produzieren in „DAS machen?“ einen queeren Gestaltungsraum. Aus einzelnen Wortfetzen können Gebilde entstehen, die weit über die Grenzen des Textlichen, des Buches, hinauswachsen und Sexualität als Idee, als Austausch, als Gefühl erschaffen. Festgelegt wird ganz wenig, dafür sich angenähert aus verschiedenen Richtungen und Erfahrungshintergründen. Was beim Sex genau passiert erfahren wir nicht, dafür aber, was sich entwickeln könnte: Irgendetwas mit Kleidung tauschen oder Videos gucken oder Unterhosen-oder-auch-keine. Wer beteiligt sein könnte: Mit wie vielen Gruppen, schwule Dinosaurier und was, wenn ich aufs Klo muss? Oder welche Wörter verdächtig werden: Rubbeln oder Vögel oder Eierspeise. In „DAS machen?“ werden keine Praktiken erklärt und keine normativen Vorstellungen erzählt, nichts kommt hier auf den Punkt, sondern es bleibt eine Annäherung, ein Umkreisen des Themas, ohne festzuschreiben. Das, was die Kinder erzählen, was sie sich fragen und was sie aus dem Unterricht aufnehmen, beschreibt, was Sexualität sein könnte, ohne zu sagen, dass dies Sexualität sein muss. Und passend dazu am Ende doch eine kurze Definition, die genau so viel offen lässt, wie sie gleichzeitig schließt: „dass Sexualität wie eine Sprache sei, nur mit dem Körper. Und dass es wie in jeder neuen Sprache einige Zeit brauche, bis Menschen einander verstehen“. „DAS machen?“ nimmt wenig vorweg, schreibt wenig vor und schafft einen Wort_Raum, in dem jede_r den eigenen Zugang zu formulieren beginnen kann.
Bilder geben
Die Wörter machen sich dabei auf, den Rahmen des Textes zu sprengen. Sie reißen Textblöcke auseinander, finden sich wieder an Tafeln und auf Papierfetzen, angenäht und aufgeklebt. Die den luftig platzierten Text begleitenden Illustrationen sammeln das, was die Schrift nicht genannt hat und bilden damit einen weiteren Artikulationsraum. Und obwohl die Bilder klar und verständlich sind, sind die von ihnen eröffneten Möglichkeiten wild und groß. Neben der Freude an den wunderschönen Collagen findet eine_r hier reichlich Material, die eigenen Gedanken zu Sexualität fantasievoll weiterzuspinnen. Was macht mensch mit der Katzenmaske? Ist das ein Penis auf Rädern? Und mit was genau sind eigentlich die grobkörnig gezeichneten Teddybären beschäftigt? Genauso wie der Text uneindeutig bleibt und gerade dadurch ein Reden zu Sex herausfordert, geben die Illustrationen immer wieder nur Andeutungen, die weit ab von normativen Erzählungen über Sexualität stattfinden. Und so ganz nebenbei, mit ein paar Strichen, zeigen Bleistiftskizzen die Vielfältigkeit von Geschlechtsteilen, ihre Wandlungsfähigkeit und wie sie ineinander übergehen, ohne auch nur einmal eine körperliche Form als die richtige hervorheben zu müssen.
Differenzen und Betonungen
Das unaufgeregt schöne Beschreiben von Differenzen zwischen den Kindern und ihren Zugängen zu Sexualität beschränkt sich nicht auf das Thema des Buches. Mit einer erfreulichen Selbstverständlichkeit haben die Kinder der Klasse 4c verschiedene Namen, verschiedene Sprachen, verschiedene Körper. In „DAS machen?“ wird die Kompetenz über Differenzen konsequent den Kindern zugesprochen, die das Konzept von Hautfarbe – „Aber wessen?“ – so lange hinterfragen, dass die Lehrerin Stress mit dem Erklären bekommt. Und die wissen, dass sie so unterschiedlich sind, dass „grrr“, „ET“ und „rofl“ als Markierungen sowieso besser passen würden als verschiedene X- und Y-Kombinationen, von denen es zwar einige gibt, aber nie genug. Die spielerische Selbstmarkierung unterwandert die normative Annahme von genau zwei Varianten der Geschlechts-Chromosomen-Verteilung und gleichzeitig überhaupt das Konzept, Menschen mit Buchstabenvarianten zu bezeichnen. Obwohl die Einführung von Inter* einhergeht mit der Beschreibung von Chromosomensätzen und damit an dieser Stelle dann doch sehr an den Bereich der Biologie angedockt wird, schafft „DAS machen?“ einen nichtpathologisierenden und fantasievoll normalisierenden Umgang mit körperlicher Differenz, der im krassen Gegensatz zu dem Wissen steht, das in Schulbüchern zu Inter* nach wie vor verbreitet wird.
In den Versatzstücken der Themenwoche finden sich zwischendurch Betonungen und thematische Auslassungen, die ein-, zweimal zur Stolperfalle werden. Während die Kinder der Klasse 4c selbstverständlich mit verschiedenen Kleidungsstilen und Frisuren gezeichnet werden, widmet sich eine Doppelseite noch einmal explizit gender-nichtkonformer Kleidung und überrascht dort dann eben doch nicht mit dem schon fast symbolischen Jungen im Rock. Wenn es um Kinder geht, die normativ gesetzte Geschlechtergrenzen überschreiten, ist in Kinderbüchern der Junge im Rock oder Kleid nicht weit entfernt. Obwohl es diverse Möglichkeiten gibt, Gender-Nichtkonformität bei Kindern auszudrücken, wird der Junge im Rock zum überstrapazierten Zeichen, das bedeutungsschwanger und dann doch nicht wirklich ausbuchstabiert durch die Kinderliteratur wandert. Was die hier beschriebenen Praxen an Gefühlen und Reaktionen auslösen könnten und wer sonst noch den Regeln konformer Kleidung nicht entspricht, bleibt unbenannt. Der Junge im Rock ist auch in „DAS machen?“ eher Schablone als plastische Lebensrealität, auch wenn er hier sehr stärkend untergebracht wurde. Und genauso wie Inter* ohne den gesellschaftlichen Kontext auftaucht und damit eben auch entpolitisiert wird, obwohl hier Gewalt an Menschen stattfindet, finden sich die Wörter „schwul“ und „Lesbos“, nicht aber das norm-zentrale „hetero“. Nur noch unglücklicher hat es vielleicht „transsexuell“ erwischt, welches – ebenfalls ohne das die Norm benennende Gegenstück – lediglich einen Platz auf der Liste von Wörtern bekommt, bei denen einige „immer lachen mussten“ und andere „es geschafft haben, ernst zu bleiben“. Meine Kritik ist hier allerdings ambivalent wie vermutlich auch der Anspruch des Buches. Denn andere Betrachtungsweisen sind auf jeden Fall möglich: Es bleibt eine schwierige Gratwanderung, in einem Buch, in dem wenig explizit benannt wird, marginalisierte Konzepte zur Sprache zu bringen. Und es ist ja auch okay und für viele alltäglich, in einer normierten Gesellschaft bestimmte Wörter – gerade die, die etwas mit Sexualität und Körpern zu tun haben – zunächst einmal komisch zu finden, weil eine_r vielleicht bisher nicht die Möglichkeit hatte, über den Tellerrand der Normen hinaus zu lernen.
Und plötzlich doch: Normen
Für dekonstruktivistisch Lesende könnte das Buch an zwei Stellen überraschend klar normativ sein. Die folgende Kritik schreibe ich aus der Lust, die Ebenen und Wissensproduktionsweisen des Textes zu untersuchen. Sie sollte aber entsprechend eingeordnet werden: „DAS machen?“ ist ein Kinderbuch über Sexualität, das das Thema grandios aufbereitet und an zwei Stellen anders schreibt, als ich es für produktiv halte. Meine Kritik ist eine sehr spezialisierte, genauso kann ich mich darüber freuen, wie welche Themen und auch dass die folgenden überhaupt in „DAS machen?“ besprochen werden.
Die Art und Weise, wie Erwachsene und Kinder gemeinsam über Sexualität sprechen können und wo vielleicht Grenzen im Interesse der Kinder liegen, wird in „DAS machen?“ damit erklärt, dass die Lehrerin der Klasse sagt, es sei „nicht passend“, wenn sie als Erwachsene mit Kindern über ihre Sexualität spreche. Dass etwas nicht passend sei, ist aber eine sehr ungenaue Schließung eines Feldes, in dem es eigentlich ja auf sehr viel Sprache und Möglichkeiten zum Austausch ankommt. Für Kinder ist es wichtig, die eigenen Gefühle und Grenzen kennen zu lernen, sich selbst einschätzen zu lernen und Unterschiede in der Selbst_Wahrnehmung bemerken zu können. Dass es beim Thema Sexualität auch Sprechen/Handeln gibt, das gewaltvoll ist und das von Kindern auch als solches erkennbar und einschätzbar sein sollte, lässt sich unter einem pauschalen Nicht-passend-Sein nicht erklären. Die Grenzziehung, deren Anspruch ich herauslesen kann, aber hier nicht umgesetzt sehe, birgt die Gefahr, Sprechen per se zu verhindern.
Überraschend ist auch die Beschreibung, wann und wo Sexualität angemessen sei. Die Ausführungen, dass Straßenbahnen und Familienfeste keine Orte für Sexualität und intime Berührungen sind und dass Babys davon noch keine Ahnung haben, wenn sie an der Brust saugen, sind zwar humorvoll erzählt, wirbeln dann aber doch eine Menge unterschwelliger Normierungen durcheinander. Der öffentliche Raum ist nicht so einfach beschreibbar und er ist in Bezug auf Sexualität und Intimität beispielsweise heteronormativ und rassistisch strukturiert. Cruising Areas als subkultivierte Form öffentlicher Sexualität sind ein Teil queerer Geschichte. Dass sie existieren, heißt zwar nicht, dass sie unbedingt für alle öffentlich begehbar sein sollten – und dem entziehen sich diese Räume ja auch – es heißt aber auch nicht, dass öffentliche Sexualität sich „nicht eignet“, sondern vielleicht eher hegemonial verschwiegen wird. Genauso stellt sich mir die Frage, warum beispielsweise Küsse und Umarmungen nicht in den Bereich intimer Berührungen zu fallen scheinen (da sie ja laufend öffentlich stattfinden) und wessen (heteronormative? weiße? eurozentristische?) Vorstellungen welcher Küsse und welcher Umarmungen im öffentlichen Raum eigentlich hier kursieren? Ein „das eignet sich nicht“ eignet sich wiederum hervorragend für die Sprüchesammlung normierender Wortverbote, die wenig darüber aussagen, warum sie etwas verbieten und viel mehr über ein generelles Unwohlsein mit dem vielleicht zu sichtbaren Anderen.
Beide hier kritisierten normativen Eingrenzungen scheitern an ihrer Umsetzung. Bei beiden Beispielen wird mir schnell klar, welches Verhalten zwischen den Zeilen als gewaltvoll/grenzüberschreitend verhandelt wird und welche Einschätzungsmöglichkeiten Kinder und Jugendliche sich aneignen sollen, um gut auf sich achten zu können. In beiden Beispielen hapert es aber an textlicher Klarheit und ausführlicheren Besprechungen und so kann – wie hier für meine Wahrnehmung – die Eingrenzung leicht zur machtvoll durchzogenen normativen Setzung werden.
Grenz_Räume
Der Umgang mit eventuellen Gewalterfahrungen, mit körperlichen und seelischen Grenzen und mit dem Achten auf die eigenen Bedürfnisse wird in „DAS machen?“ ansonsten wunderschön vorsichtig und stärkend umgesetzt. Hier ist das Projekt merklich von Axsters Erfahrung in der Arbeit gegen sexualisierte Gewalt bei Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Das großformatige Buch lädt dazu ein, auf den Seiten zu verweilen und sich zwischen den Zeilen so viel Zeit zu nehmen, wie eine_r braucht und möchte, um sich im Thema einzurichten. In „DAS machen?“ bekommen die Wörter und Bilder viel Platz sich zu entfalten, sich zu verstecken oder wichtig und groß zu werden. So wie die Sprache darauf verzichtet, zuzuschreiben und Hierarchien innerhalb sexueller Nicht_Handlungen zu kreieren, so werden auch Grenzen und Verletzungen als Realität etabliert, ohne moralische Ableitungen zu formulieren. Sexualität ist in „DAS machen?“ nicht eindeutig und diese Uneindeutigkeit lässt positive und negative Gefühle zu, ohne sie als gut/richtig oder schlecht/falsch zu klassifizieren. Von den Freundinnen „alles kriegen“, dabei aber „unter dem Glastisch liegen“, sich eine winterfeste Wollhaut auf den Körper zeichnen oder sich dem Mitreden über Sexualität zu verweigern, um stattdessen kreative Doppel-S-Wort-Sammlungen zu verfassen: Die Grenzen und Schutzmechanismen, die von den Protagonist_innen eingesetzt und benannt werden, werden nicht problematisiert, sondern als produktiver Beitrag zum Thema, als eigene Sicht etabliert. Ob die Kinder bei einem Spiel oder einer Aufgabe mitmachen wollen oder nicht, jeder Nicht_Zugang zu Sexualität ist eine wertvolle individuelle Handlungsweise, die ihren Zweck erfüllt und den Inhalt der Projektwoche bereichert. Und damit eröffnet sich ein Raum, der gut sein kann und in dem nicht gesagt wird, was eine_r mögen muss und was nicht, sondern in dem wir selbst über die Sinnhaftigkeit unserer Praxen entscheiden, indem sie sich für uns als wertvoll erweisen oder eben nicht.
Schließen und ab ins Netz
Zum Buch gehört eine Website (dasmachen.net), auf die die_der Leser_in auf der Impressumsseite hingewiesen wird und die konzeptuell das Buch erweitert. Die Website richtet sich wie das Buch hauptsächlich an Kinder und Jugendliche und vertieft einige Themen, die im Buch nur grob angesprochen werden. Wir finden hier Antworten auf einige Fragen, die Kinder im Buch gestellt haben, wir können eine Liste schwieriger Wörter nachlesen oder verschiedene kleinere Spiele spielen, die sich aus Themen des Buches ableiten. Die Queerness, die sich in „DAS machen?“ durch die textliche Offenheit ergibt, in der wenig festgeschrieben wird und vieles im eigenen fantasievollen Lesen entsteht, findet sich auf der Website leider nicht wieder. Die hier gesammelten Worterklärungen sind doch überwiegend heter@orientiert, mit einer Betonung auf Penis-in-Vagina-Sex und Formulierungen, die leicht ein Andern marginalisierter Lebensentwürfe und Sexpraktiken produzieren können. Das ist schade; als Lexikon und Informationsmöglichkeit rund um Sexualität und Körper ist die Seite trotzdem sehr wertvoll.
„DAS machen?“ ist ein Buch, dem auf jeden Fall Zeit gewidmet werden sollte, da es Fragen provoziert, die in die Tiefe gehen können und eventuell auffordern, ganz neu und anders über Körper, Sexualität und Intimität nachzudenken und zu sprechen. Bei jedem Durchlesen erneut herausragend ist die Art, wie sich die Sprache den Zuschreibungen entzieht und gemeinsam mit den Bildern einen weiten Möglichkeitsraum eröffnet. Abseits von Biologismen, Kinderkriegen und Krankheiten wird sich in „DAS machen?“ auf die Möglichkeiten konzentriert, alleine, gemeinsam, mit Freund_innen eine Sprache der Sexualität und Körperlichkeit zu entwickeln, die vom Wollen ausgeht, vom Aushandeln, vom Grenzen-Ziehen und vor allem Sich-gut-Fühlen. „DAS machen?“ ist damit ein seltenes, wertvolles Buch und sicherlich das beste Aufklärungsbuch, das ich bisher gelesen habe.
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Ich möchte Kathrin, Philipp und Steff danken, die mich auf einige der hier beschriebenen Punkte erst gestoßen und mein Nachdenken dazu angeregt haben.